Reportage:Leben in der "schlimmsten Straße der Stadt"

Dauerlärm, hustende Kinder und dreckige Tische - die Leiden der Menschen aus der Landshuter Allee.

Von Christoph Henn

Seit vier Stunden tut Dieter Janecek etwas, das ihm eigentlich zutiefst zuwider ist. Er steht an der Landshuter Allee, jener Straße, die zurzeit wohl das schlechteste Image aller deutschen Verkehrsadern hat. Immer wieder muss der 28-Jährige ganz dicht an die Fahrspur, auf der unablässig und lärmend Autos und Lastwägen entlangrollen.

"Heute opfere ich mich", sagt Janecek, "damit es hier bald besser wird." Er geht zum nächsten Kamerateam, folgt geduldig den Anweisungen des Fernsehredakteurs: aus der Haustür raus, auf die Autos deuten, an der Straße entlang laufen.

Es ist sehr ungewöhnlich, dass sich Janecek an diesem Dienstag Mittag vor seiner Wohnung an der Landshuter Allee aufhält. Zum einen, weil der Kommunikations-Referent der Bayerischen Grünen um diese Uhrzeit normalerweise in der Arbeit ist. Und vor allem, weil er doch eigentlich bei Gericht sein müsste. Als erster Bürger Münchens reicht Janecek beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Stadt und die Regierung von Oberbayern ein. Das heißt, er lässt einreichen: "Mein Anwalt macht das gerade" (siehe Bericht).

Schleichender Tod

Der Grund für die Klage und für die rund 15 Interviews, die er bis 13 Uhr schon gegeben hat, schwebt unsichtbar in der Luft: Es ist der Feinstaub, dessen Grenzwert am Sonntag in der Landshuter Allee zum 36. Mal in diesem Jahr überschritten wurde. Nur 35 Male dürfte das nach neuem EU-Recht innerhalb von zwölf Monaten passieren. "Ich will, dass die Grenzwerte eingehalten werden", sagt der junge Mann. "Es ist nachweisbar, dass Menschen schleichend am Feinstaub sterben."

Nicht weit von Janecek entfernt, in der Landshuter Allee 110, wohnt Suzete Schiessler zusammen mit ihrem Mann und den beiden Töchtern. Familien wie diese sind es, die Janecek meint, wenn er sagt: "Ich kämpfe stellvertretend für die vielen Menschen, die hier an der Straße wohnen." Und er scheint Recht zu haben. Auch Suzete Schiessler fühlt sich gar nicht wohl in der Wohnung im zweiten Stock, deren Wohnzimmerfenster und Balkon zur großen Straße hinaus gehen. "Es ist sehr schlimm hier, furchtbar", klagt die gebürtige Brasilianerin. Früher lebte sie in Tegernheim, einem beschaulichen Vorort von Regensburg. Vor sechs Jahren zog sie mit ihrem Mann hierher - "in die schlimmste Straße Münchens".

Monotones Rauschen

Im kleinen Wohnzimmer der Schiesslers hängt ein großes Foto aus der Heimat der 41-Jährigen. Es zeigt die Copacabana und steht im krassen Gegensatz zur Welt außerhalb der Wohnung: zum Verkehrslärm, der bei geschlossenen Fenstern als monotones Rauschen in die Wohnung dringt und bei geöffneter Balkontür zur Belästigung schwillt.

Ganz zu schweigen von den Abgasen, die die Schiesslers mit jedem Lüften ins Wohnzimmer holen. Ihren Balkon nutzt die Familie ohnehin nur noch als Abstellbereich: "Da kann sich doch niemand hinsetzen", sagt Schiessler, rümpft die Nase und blickt hinunter auf die Landshuter Allee. "Man sollte das alles untertunneln", sagt die Frau über die Straße, der sie die Schuld gibt für die Gesundheitsbeschwerden ihrer Töchter. "Rosane hat Husten und Kopfschmerzen, seit sie hier wohnt, und auch die kleine Yana leidet unter den Abgasen." Die Fünfjährige nickt heftig: "Ich muss immer husten."

Leben in der "schlimmsten Straße der Stadt"

Die Sorge um die Atemwege ist es, die Dieter Janecek zum Kläger werden ließ. "Ich spüre es vor allem, wenn ich mit dem Rad zur Arbeit fahre", erklärt er zwischen den Fernseh-Interviews. Er weiß natürlich, dass er das Problem zumindest für sich lösen könnte. Er müsste einfach nur wegziehen, in eine andere Gegend, weg von der Verkehrsader. Doch im Gegensatz zur Familie Schiessler, die gerne umziehen würde, aber es sich nicht leisten kann, ist das für Janecek keine Option. "Ich stehe zu Neuhausen und möchte hier bleiben. Ich will nur mein Recht einklagen."

Kein Gedränge auf der Cafe-Terrasse

Deutlich mehr Ausdauer als Janecek, der erst seit einem halben Jahr in dem lachsfarbenen, fünfgeschossigen Flachbau neben der Kirche Sankt Theresa wohnt, hat bislang Bettina Kraus bewiesen. Seit 25 Jahren führt sie das Cafe Freiheit am gleichnamigen Platz. Und genauso lange macht ihr der Verkehr, der über die Landshuter Allee an ihrem Freisitz vorbei rollt, zusätzliche Arbeit. Fünf bis sechsmal am Tag wischt sie oder eine Kollegin im Sommer den Ruß von den Tischen und Stühlen im Freien - die großen Fensterscheiben werden einmal in der Woche gereinigt.

Dadurch versucht sie, ihren Gästen das Draußensitzen so angenehm wie möglich zu machen. "Es ist bei uns eh nicht so, dass man auf dem Freisitz um einen Platz kämpfen müsste."Kraus' Tochter Pola jedoch, die im Cafe Freiheit bedient, tut das am liebsten draußen. Gerade in der Gastronomie hält sie Feinstaub für ein geringes Übel. "Es ist viel schlimmer, den ganzen Tag in einer verrauchten Kneipe zu arbeiten."

Ungern hingegen steht Dieter Janecek an der Straße - immer noch. "Es ist doch ein Witz: Warum haben wir Grenzwerte, wenn sie nicht eingehalten werden?", fragt er die Reporter und fordert: Die Lkw, die vor der Maut flüchten, müssten runter vom Mittleren Ring. Und die Stadt müsse sich endlich Gedanken machen. Die vielen Interviews scheinen ihm nichts auszumachen. Wohl aber die unsichtbaren Partikel, die er seit Stunden einatmet. "Das werde ich heute Abend sicher merken."

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